Ende Januar verlor die sephardische Musikwelt ihren größten Star — Flory Jagoda, die sich wie kein anderer Künstler für die sephardische Musik und die Wiederbelebung des Ladino eingesetzt hatte, starb im Alter von 97 Jahren in Virginia/USA.

Wir blicken auf das bewegte Leben dieser Ausnahmekünstlerin zurück, auf ihre Kindheit in Bosnien, die Flucht nach Italien und schließlich die Auswanderung in die USA, wo sie zu einer wahrhaften Kultfigur der sephardischen und ladinoaffinen Community werden sollte.

Klein-Jerusalem und die Melodien der Kindheit

Flory kam am 21. Dezember 1923 in Sarajevo, Königreich Jugoslawien, als Flora Papo auf die Welt. Die Stadt trug damals den Beinamen „Klein-Jerusalem“, da sich dort viele sephardische Juden niedergelassen hatten. Auch in den umliegenden Städten gab es große sephardische Gemeinschaften, u. a. in Vlasenica, einem Bergdorf, etwa 100 km nordöstlich von Sarajewo. Hier wohnte Florys Verwandtschaft mütterlicherseits, die Altarač-Familie, die vor vielen Generationen aus Spanien gekommen war.

Nach der Trennung ihrer Eltern zog Flory mit ihrer Mutter nach Vlasenica, wo sie im Schoße der Altarač-Familie aufwuchs — umgeben von Ladino (Judäo-Spanisch) und sephardischen Melodien und Volksliedern, denn in der äußerst musikalischen Familie spielte jeder ein Instrument oder sang. Flory sollte später in vielen ihrer Lieder auf diese glücklichen Kindheitsjahre in Vlasenica zurückkommen, z. B. in Rikordus Di Mi Nona, das von ihrer geliebten Großmutter Berta handelt, oder in Las Tiyas, mit dem sie ihren Tanten ein Denkmal setzte.

Musik als Schutzschild

Die glücklichen Kinder- und Jugendjahre endeten mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im April 1941. Flory musste fortan den Davidstern mit dem Aufdruck „Židov“ tragen — genau wie die etwa 12 000 anderen Juden, die in Zagreb lebten, wo Flory nun mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wohnte. Mit jedem Tag gab es neue Auflagen und Restriktionen für die jüdischen Einwohner. Schließlich traf der Stiefvater die Entscheidung, mit der Familie die Stadt zu verlassen.

Aus Sicherheitsgründen reiste jeder für sich — unter nicht-jüdischen Namen. Flory war die erste, die sich mit dem Zug auf den Weg Richtung Split machte. „Sprich mit niemandem, spiel einfach auf Deinem Akkordeon“, ermahnte sie ihr Stiefvater. Flory hielt sich daran und der Plan ging auf. Die anderen Reisenden hörten zu, wie Flory spielte, sangen mit. Keiner fragte sie, wer sie ist oder was sie in Split zu tun hat. Der Schaffner fragte sie nicht einmal nach der Fahrkarte. Über diese Flucht nach Split schrieb Flory später das Lied Sviraj harmoniku (in bosnischer Sprache: Spiel Akkordeon!). 

Der in Split wiedervereinten Familie wurde indes schnell klar, dass die Hafenstadt kein sicherer Ort für sie ist. Sie flüchteten weiter auf die Insel Korčula in der Adria. Dort tauchte die Familie unter — genau wie 250 weitere jüdische Flüchtlinge. Florys Akkordeon leistete der Familie in dieser Zeit einen wertvollen Dienst, denn Flory erteilte den Kindern auf der Insel Akkordeon-Unterricht und verdiente somit das Nötigste, um die Familie über Wasser zu halten.

Jüdische Hochzeit in Bari

Im Herbst 1943 machten Gerüchte die Runde, dass die Deutschen jederzeit auf die Insel kommen könnten. Bei Nacht und Nebel flüchteten alle, die konnten, auf kleinen Fischerboten nach Bari. Die italienische Hafenstadt war gerade von den Briten befreit worden. 

Für Flory sollte sie mehr als nur ein sicherer Hafen werden. Sie nahm eine Sekretariatsarbeit bei den dort stationierten Amerikanern an und lernte Sergeant Harry Jagoda kennen, einen aschkenasischen Juden mit Wurzeln in Polen. Die beiden verliebten sich und wurden einige Monate später von einem Rabbiner getraut. Kurze Zeit danach trat Flory die Reise nach Amerika an. Ihr Eltern folgten zwei Jahre später.

Bevor sie jedoch Europa verließen, ereilte sie die schreckliche Nachricht, dass in Vlasenica die gesamte Altarač-Familie, 42 Personen, umgebracht wurde. Viele Jahre später kehrte Flory in das Dorf zurück, in dem sie als Kind viele glückliche Jahre verbracht hatte. Sie ging durch die Straßen in ihrem alten Viertel: Weit und breit keine Spur von dem jahrhundertelangen Wirken und Leben der Familie. Etwas außerhalb der Ortschaft, an der Stelle des grausamen Verbrechens, erinnert eine Gedenktafel an die Familie Altarač. 

Unter dem Eindruck dieses Besuchs schrieb Flory das Gedicht Todos se hueron: Wo sind die Kinder, die immer hier spielten, wo sind die Mütter, die hier ihre Gebete aufsagten? Alle sind sie weg, todos se hueron, lautet die traurige Antwort.

Neuer Schwung für die sephardische Musik und für Ladino

Die ersten Jahre in Amerika standen ganz im Zeichen des Familienlebens. Flory und Harry bekamen zusammen vier Kinder. Alle lernten sie die Lieder aus Vlasenica kennen und in späteren Jahren reisten sie mit ihrer Mutter auf Konzertreisen um die Welt. In der Anfangszeit spielten sephardische Musik und Ladino jedoch nur eine untergeordnete Rolle, denn Florys Mutter wollte davon nichts mehr hören und sehen. Für sie war es mit zu vielen schmerzlichen Erinnerungen verbunden und überhaupt waren, was sie betraf, Ladino und seine Kultur mit ihrer Familie in Vlasenica gestorben.

Erst nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Stiefvaters kramte Flory die alten Lieder wieder hervor, die ihre Großmutter und die Altarač-Familie zu spielen pflegten. Als einzige Überlebende der Familie, die die Lieder und die dazugehörigen Geschichten kannte, sah es Flory als ihre Pflicht und Mission an, diesen Kultur- und Liederschatz weiterzugeben.

Zwischen 1988 und 2006 nahm Flory vier Alben auf: Kantikas Di Mi Nona (1988), Memories of Sarajevo (1989), La Nona Kanta (1992) und Arvoliko (2006). Die Lieder erzählen von der sephardischen Welt, in der sie aufgewachsen ist.

Sie erzählen vom alten Heimatland Spanien (La Yave de Espanya), von den jüdischen Feiertagen (Ocho Kandelikas, Simhat Tora, El Diya de Purim, Pesah Ala Mano), von ihrer Familie (Rikordus Di Mi Nona, Las Tiyas), von der alten Heimat Jugoslawien (Spalato Di Noche, Raguza/Dubrovnik) und von universellen Themen wie der Liebe (L’amor, Oildo Mi Novya).
Ihr bekanntestes Lied ist Ocho Kandelikas — ein Chanukka-Klassiker aus dem Jahr 1983, der von vielen Künstlern gecovert und auch auf Englisch aufgenommen wurde.

Ehrungen und Inspirationsquelle für die nächste Generation

2002 erhielt Flory Jagoda für ihren enormen Einsatz bei der Weitervermittlung der Tradition des sephardischen Volksliedes auf Ladino den amerikanischen Preis National Heritage Fellowship. An ihrem 90. Geburtstag gab sie ein Galakonzert in der Library of Congress, wo sie zusammen mit ihren Kindern, Enkelkindern und Schülern auftrat. Das Konzert kann auf der Website der Library of Congress gestreamt werden, genau wie der Dokumentarfilm Flory’s Flame und ein ausführliches Interview.

2019 erschien ein wunderbares Bilderbuch, das die Geschichte von Flory Jagoda und ihrer Familie der nächsten Generation weitervermittelt: The Key From Spain (Kar-Ben Publishing), verfasst von Debbie Levy und illustriert von Sonja Wimmer. Das Büchlein bringt den jungen Lesern sogar einige Wörter auf Ladino bei.

Flory Jagoda verstarb am 29. Januar 2021. Sie hinterlässt einen großen Kulturschatz: sephardische Volkslieder, Melodien und Geschichten —gesungen und erzählt auf Ladino.

Möge ihre Erinnerung ein Segen sein.


“Ocho kandelikas” von Flory Jagoda (Klavier: Guan-Hui Lu)