Manchmal kommt es vor, dass eine Geschichte einen Verfasser sucht, dass das Material gewissermaßen nur darauf wartet, aufgegriffen und in einem Buch verarbeitet zu werden. Genau so ist es Ilja Wechselmann mit dem Stoff zu seinem neuen Roman Fængsler (Byens Forlag, 2020) ergangen. 

In dem Roman erzählt er über Schicksale im Nachkriegsdeutschland: Über die Familie Perrey, die im Krieg von Ostpreußen nach Südschleswig flüchtete und sich schließlich in der Pfalz niederließ. Er berichtet von Christa, die ihren einzigen Sohn Horst in den Nachkriegswirren in einem Kinderheim unterbringt, und davon, wie dieser Beschluss Christas und Horsts Leben nachhaltig prägen sollte — und über Umwege auch das Leben der Familie Perrey. 

Die Inspiration für den Roman bekam Ilja Wechselmann in einem Haus, das er im dänisch-deutschen Grenzland in der Nähe von Hoyer gekauft hatte. Die vorherigen Eigentümer, ein dänisch-deutsches Ehepaar, waren verstorben, und da sie keine Angehörigen hatten, übernahm Ilja Wechselmann das Haus mit sämtlichen Einrichtungsgegenständen. In dem Haus fanden sich auch unzählige Briefe, Dokumente und Bücher, die die Lebensgeschichte des verstorbenen Ehepaars erzählten. 

Wir haben uns mit Ilja Wechselmann über diesen ungewöhnlichen Fund unterhalten, über die Entstehung des Romans und den Schreibprozess. Wir sprachen auch über seine eigenen Erfahrungen aus der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit und inwiefern diese in den Roman eingeflossen sind. Abschließend gibt Ilja Wechselmann einen Einblick in seine eigene Familiengeschichte, die eventuell Gegenstand eines kommenden Buchprojekts werden könnte.

Können Sie sich an den Moment erinnern, in dem Ihnen klar wurde, dass Sie auf der Grundlage der Fundstücke aus dem Haus einen Roman schreiben wollten?

Ja, es war allerdings nicht so sehr ein konkreter Moment, sondern vielmehr ein Prozess — ein Prozess, der an Fahrt aufgenommen hat, als mir bewusst wurde, dass die Realisierung meines Wunschs, einen Roman zu verfassen, hier ganz nahe war. Ich las die Bücher aus dem Regal des verstorbenen Ehepaars. Es entstanden Figuren, die zwar nicht in unmittelbarer familiärer Verbindung zu dem Paar standen, jedoch einen Rahmen um Giselas Familie bildeten.

Ostpreußen, Kinderheime, Deutschland nach dem Krieg usw. Ursprünglich wollte ich mehr über Giselas Mann schreiben, der als Croupier im Casino auf Sylt arbeitete, wo Milliarden von Euro durchfließen. Schlussendlich habe ich diesen Erzählstrang wieder herausgenommen. Es gab noch weitere originelle Ideen, die ich wieder verwerfen musste. Das Buch ist ja schon komplex genug wie es jetzt ist — sagen zumindest viele.

Für den Roman mussten Sie sich in viele Lebensgeschichten hineinversetzen. Da ist das Schicksal von Horst, dessen Leben von seiner schwierigen Kindheit und Jugend in Heimen geprägt ist. Oder Horsts Mutter Christa, die nie so recht über ihre Entscheidung hinwegkommt, Horst abgegeben zu haben. Und dann natürlich die Geschichte der Familie Perrey: Siegfried, den die Erlebnisse aus dem Krieg nie ganz loslassen, und seine Tochter Gisela — die frühere Eigentümerin Ihres Hauses im dänisch-deutschen Grenzland —, die darunter leidet, dass ihr Vater seine Kriegserfahrungen totschweigt. Gab es eine Figur, in deren Haut Sie nur schwer „hineinschlüpfen“ konnten?

Das lässt sich nur schwer beantworten. Ich hatte z. B. anfangs mehr über Siegfrieds Frau geschrieben, Marianne Ewert, deren Tagebuchaufzeichnungen eine wichtige Quelle waren. Der Verlag und meine Redakteurin schlugen jedoch vor, sie herauszuschreiben. Sie tritt jetzt nur als Nebenfigur in Erscheinung. Der Vorteil dieses redaktionellen Eingriffs ist mir erst später aufgegangen. Horst ist ein Produkt von Recherchearbeit und eigenen Erfahrungen aus dem Heim. In seine Figur sind viele verschiedene Schicksale eingeflossen. Er musste in die Geschichte als Antagonist. Ob er dieser Rolle gerecht wird, müssen die Leserinnen und Leser entscheiden. 

In Arnes und Giselas Bücherschrank habe ich die Literatur gefunden, die mir geholfen hat, Horst und die Geschichte der RAF besser zu verstehen. Die Figur des Horst brachte gewissermaßen die Figur seiner Mutter Christa mit sich, die ich in dem Dorf wohnen ließ, wo meine Frau und ich unser erstes Haus im Ausland gekauft hatten. Horst, Christa und Fritz Zwergenthal sind also das Produkt von Recherchearbeit, die teilweise in diesem Dorf und teilweise in Ostpreußen erfolgte, wo die Familie Perrey ursprünglich herkommt.

In Ihrem Roman schildern Sie, wie sich der Krieg direkt oder indirekt auf die Menschen auswirkt — sowohl auf diejenigen, die ihn bewusst und am eigenen Leibe erfahren haben, als auch auf die, die während des Krieges oder danach geboren wurden.  Sie haben 1944 in Schweden das Licht der Welt erblickt, wohin Ihre Eltern vor den Nazis geflüchtet sind. Sind in Ihre Darstellung von Horst, Christa, Siegfried und Gisela auch eigene Erfahrungen eingeflossen?

Alles außer Ja wäre gelogen. Das ganze Buch beruht auf meinen eigenen Erfahrungen — als Historiker, als Jude und als älterer Herr mit entsprechender Lebenserfahrung. Das Interessante an Ihrer Frage ist nicht nur der Aspekt, inwiefern meine eigenen Erfahrungen den Weg ins Buch gefunden haben, sondern auch der Aspekt, wie von dem Buch eine geradezu therapeutische Wirkung auf mich ausgegangen ist. In einer Einführung zum Buch habe ich geschrieben, dass mir erst mit dem Alter, also erst jetzt richtig klar geworden ist, was es heißt, als Ungeborenes gerettet zu werden — nämlich durch die Flucht meiner Eltern von Dänemark nach Schweden vor der nazistischen Judenverfolgung im Oktober 1943. Man muss sich das vorstellen: Gerettet zu werden, ehe man überhaupt geboren ist! Das habe ich erst jetzt richtig begriffen. Natürlich wusste ich davon schon als kleiner Junge, das war einfach Teil meiner Geschichte. Jetzt, wo ich weiß, wie die Familien meiner Eltern unter der Judenverfolgung dezimiert und beinahe ausgelöscht wurden, verstehe ich, welches Wunder mir zuteil wurde.

Haben Sie während der Arbeit am Buch einige der Schauplätze besucht? Flensburg, Haßloch, Frankfurt, Dresden, Kaliningrad?

Ja, alle Orte, außer Königsberg/Oblast Kaliningrad. Wir wohnten einige Zeit in der Pfalz und ich  habe fünf Jahre an der dänischen Gemeinschaftsschule Duborg-Skolen in Flensburg sowie an der Universität dort unterrichtet. Die Arbeit am Text wurde sehr durch eine junge und äußerst talentierte Redakteurin bereichert, die mir der Verlag zugewiesen hat. Sie musste ein halbes Jahr lang mit mir kämpfen und hat wahre Wunder bewirkt.

Ihre eigene Geschichte ist auch von vielen verschiedenen Städten und Ländern geprägt. Haben Sie darüber nachgedacht, Ihre Geschichte und die Ihrer Familie aufzuschreiben? Vielleicht in Ihrem nächsten Roman?

Ja, ich tue nichts anderes. Allerdings schreibe ich nicht gerne Autobiografisches. Eine spannende Autobiografie kann mich schon packen, aber ich ziehe den Roman als Genre vor, denn so lasse ich meine Person hinter mir bzw. lasse sie in einem größeren Ganzen aufgehen. Ich glaube nämlich nicht, dass meine Person und meine persönlichen Erfahrungen so interessant sind wie der soziale Kontext an sich. Ich möchte lieber etwas Generelles als etwas Individuelles vermitteln. Ich habe mich immer intensiv mit Politik befasst, was – neben Geschichte – mein Fachbereich während meiner langen Universitätskarriere war. Nach und nach bin ich zu dem Schluss gelangt, dass es in der Politik zu oft um Auseinandersetzungen und Konflikte geht. In einem Roman kann/soll es durchaus auch um Konflikte gehen, aber die Handelnden und ihre Beziehungen zueinander sollen nuanciert dargestellt werden — das Leben, wie es sich entfaltet, die Hoffnungen und Träume, die Enttäuschungen und Probleme samt Lösungen. Meine Erfahrungen schwingen bei allem mit, was ich schreibe, wenn auch in abgeänderter oder angepasster Form. 

Meine Großmutter väterlicherseits, Clara Wechselmann, hat ein Archiv mit Material hinterlassen, das einmal bearbeitet und in einen zusammenfassenden Text gegossen werden müsste. Sie war Deutsche und hatte sich so viel Dänisch beigebracht, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Hauptübersetzerin der anerkanntesten dänischen Autoren war. Mit der Frage, wie sich diese Geschichte am besten vermitteln lässt, habe ich mich eingehender befasst. Inzwischen hat meine Nichte Ann-Claire Olsen zu Ehren ihrer Ur-Großmutter den Verlag Clara gegründet. Meine Schwester Maj Wechselmann, eine schwedische Dokudrama-Produzentin, hat sich filmisch mit der Geschichte unserer Eltern auseinandergesetzt. Und meine Tochter Mirjam hat auch bereits einen Roman veröffentlicht. 



Ilja Wechselmanns Roman Fængsler ist Ende Oktober 2020 bei Byens Forlag erschienen. 

324 Seiten kosten 299 DKK. 

Redaktion: Vilde Melchior Rødder

Umschlaggestaltung: Karin Lindberg


Eine ausführliche Buchbesprechung wurde auf bogrummet.dk veröffentlicht.