Volker Weidermann hat ein Faible für Geschichten über bekannte Persönlichkeiten aus der deutschsprachigen Literaturwelt. 2014 veröffentlichte er Ostende, die Geschichte der Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth. 2019 nahm er sich dann die Hassliebe zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki vor: Das Duell.
Die Doppelbiografie über den Nobelpreisträger und den Literaturpapst ist vor kurzem in dänischer Übersetzung erschienen (siehe unsere dänische Rezension hier auf nayes&נײַעס). Aus diesem Anlass haben wir uns auch nochmals mit dem Original befasst, und zwar mit der ausgezeichneten, von Gert Heidenreich eingelesenen Hörbuchfassung.
Eines vorneweg: Es ist erstaunlich, was Volker Weidermann auf nur 320 Seiten (bzw. in 9 Stunden) zu vermitteln vermag. Nicht nur die Lebensgeschichte zweier Schwergewichte der deutschsprachigen Literatur — wohlgemerkt mit sämtlichen wichtigen Episoden, zentralen Anekdoten, den Skandälchen und Skandalen —, sondern gewissermaßen en passant auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie die der modernen deutschen Literatur.
Ausgangspunkt der Reise, auf die uns Volker Weidermann hier mitnimmt, ist die Weichsel. An ihren Ufern erblickte sowohl Marcel Reich als auch Günter Grass das Licht der Welt. Ersterer 1920 in der polnischen Stadt Włocławek, Letzterer 1927 in der Freistadt Danzig.
Beide vergötterten ihre Mütter und hatten ein belastetes Verhältnis zu ihren Vätern, beide waren frühreife Leser und Eigenbrötler.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten sollten sich ihre Leben jedoch — besonders als sie junge Männer waren — in vollkommen unterschiedliche Richtungen entwickeln. Marcel Reich sah sich aufgrund seiner jüdischen Herkunft ab den 1930er Jahren allen möglichen Schikanen ausgesetzt. 1940 wurde er zur Umsiedlung ins Warschauer Ghetto gezwungen. Dass er und seine Frau Tosia, die er im Ghetto geheiratet hatte, den Krieg überlebten, war ein reines Wunder.
Günter Grass wuchs in Danzig auf und durchlief — wie viele andere in jenen Jahren — sämtliche NS-Jugendorganisationen. Der junge Grass konnte es gar nicht erwarten, selbst in den Krieg zu ziehen und für sein Vaterland zu kämpfen. Damals hatte er nicht den Hauch eines Zweifels, dass es das Richtige sei.
Nach dem Krieg kreuzten sich die Wege der beiden so ähnlichen und doch so verschiedenen Männer dann regelmäßig. Beide hatten ihre Liebe zur Literatur zum Beruf gemacht. Marcel Reich-Ranicki, der 1958 aus dem kommunistischen Polen nach Deutschland gekommen war, avancierte in Deutschland binnen kürzester Zeit zu einem der führenden Literaturkritiker und wurde später mit seiner TV-Sendung Das Literarische Quartett landesweit als Literaturpapst bekannt. Günter Grass debütierte 1959 mit der Blechtrommel und legte eine einzigartige Karriere als einer der einflussreichsten Autoren im Nachkriegsdeutschland hin — eine Karriere, die 1999 mit dem Literaturnobelpreis gekrönt wurde.
Der Schauplatz des jahrzehntelangen Duells zwischen dem Schriftsteller und seinem Kritiker — mit vielen Verrissen, aber auch so mancher Lobeshymne — war selbstredend zunächst die literarische Bühne. Dort stritten sie leidenschaftlich um die Literatur, ihr Wesen und ihre Aufgabe. Es gab aber auch so manchen Nebenschauplatz. So etwa in den 1960er Jahren, wo Reich-Ranicki den deutschen Schriftstellern in einem Zeit-Artikel vorwarf, bei den Auschwitz-Prozessen mit Abwesenheit zu glänzen. „Gehören sie zu jenen, die zudecken, oder zu jenen, die aufdecken“, schleuderte er den deutschen Verfassern entgegen.
Der Nobelpreisträger Grass war auch außerhalb des Literaturbetriebs engagiert und gefragt. Er war ein einflußreicher Kommentator des politischen und gesellschaftlichen Lebens, schrieb Reden und führte Wahlkampf für den späteren Bundeskanzler Willy Brandt. Grass war eine charismatische Persönlichkeit, die als moralische Instanz angesehen wurde und die oftmals den Zeigefinger erhob: „Es gibt keine innere Emigration. Wer schweigt, wird schuldig.“
Entsprechend groß war demnach die Schockwelle, die er auslöste, als er 2006 in seinen Erinnerungen Beim Häuten der Zwiebel ein lebenslang bestens gehütetes Geheimnis preisgab — nämlich, dass er während des Krieges Mitglied der Waffen-SS gewesen war.
Diesen dunklen Abschnitt aus Günter Grass’ Leben beleuchtet Weidermann natürlich auch in seinem Buch. Genau wie die Episode um Grass’ israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muss, das 2012 einen Skandal verursachte.
Marcel Reich-Ranickis Leben blieb auch nicht ganz skandalfrei. 1994 wurde bekannt, dass er in den späten 1940er Jahren für den polnischen Geheimdienst in London gearbeitet hatte. Auf die Hintergründe hierzu geht Weidermann ebenfalls ausführlich ein.
Wie eingangs gesagt: Volker Weidermann bringt in Das Duell unglaublich viel unter, jedoch ohne dass es überladen wirken würde. Er findet ein gutes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Episoden, und der abwechselnde Blick auf Reich-Ranickis und Grass’ Biografie schafft einen dynamischen Erzählfluss.
Fazit: Doppelbiografie über zwei Hauptakteure der deutschen Literatur, Geschichtsbuch über das 20. Jahrhundert und moderne deutsche Literaturgeschichte in einem. Alle, die sich für deutsche Literatur und Geschichte interessieren, kommen bei Das Duell auf ihre Kosten.
Titel: Das Duell — Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki
Autor: Volker Weidermann
Sprecher: Gert Heidenreich
Herausgeber: Der Audio Verlag
Erscheinungsjahr: 2019
Dauer: 9 h
Preis: 12,99 EUR