Vu iz dos gezele? (Wo ist das Gässlein?) lautet der Titel eines Kunstwerks, das die australische Malerin Wendy Sharpe Ende Juli  2021 im Jüdischen Museum Sydney kreierte. Bei dem Kunstwerk handelt es sich um ein imposantes Wandgemälde, mit dem die Künstlerin ihre Eindrücke von einer Ahnenforschungsreise in die Ukraine wiedergibt.

Das Kunstwerk erstreckt sich über vier Wände auf ingesamt 40 Metern. Dargestellt werden Szenen von Sharpes Ukraine-Reise — eine Reise auf den Spuren ihrer Familie väterlicherseits, eine Suche nach der ostjüdischen Welt vergangener Zeiten.

Wendy Sharpes Reise beginnt auf dem jüdischen Friedhof in London, wo ein Teil ihrer Familie seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die nächste Station ist die ukrainische Hauptstadt Kiew, von wo aus es nach Kamjanez-Podilskyj im südwestlichen Teil der Ukraine geht. Aus dieser Region stammt die Familie ihres Vaters. Kamjanets-Podilskyi war im August 1941 Schauplatz eines fürchterlichen Massakers, bei dem SS-Schergen 23 000 Juden ermordeten. 

Sharpes Wandgemälde zeigt die Orte, die sie auf ihrer Reise im Jahr 2019 besuchte — jüdische Friedhöfe, die Synagoge von Kiew, Straßen und Wege, die Sharpes Vorfahren beschritten. Aber nicht nur das tatsächlich Gesehene und Erlebte spiegelt sich in dem Kunstwerk wider, sondern auch das Gefühlte — die Verzweiflung und Ohnmacht angesichts einer ganzen Welt, die auf immer verloren ist.
Auch Persönliches wird gezeigt, wie etwa ein altes Familienfoto und ein großes Porträt ihrer Großmutter Bessie Fishman.

Ihre Großmutter Bessie wuchs in London auf, wohin die Familie vor den anhaltenden Pogromen im Russischen Kaiserreich geflüchtet war. Sie pflegte eine Weise aus der alten Heimat zu singen:
Vu iz dos gesele — wo ist es geblieben, das Gässlein? Dieses jiddische Lied, das die Künstlerin zum Titel der Ausstellung inspirierte, drückt perfekt die melancholische Stimmung aus, die dem Suchen nach etwas innewohnt, von dem man weiß, dass es nicht mehr ist.

Ephemeres Werk virtuell verewigt

Wendy Sharpes Wandmalerei Vu iz dos gesele hätte eigentlich im Juli und August für die Besucherinnen und Besucher des Jüdischen Museums Sydney zu sehen sein sollen, doch wegen eines Lockdown im Großraum Sydney konnte nur eine Handvoll Leute die Ausstellung vor Ort besuchen. Ende August wurde Sharpes ephemeres Werk wieder entfernt.

Doch im Gegensatz zum Gässlein im titelgebenden Lied Vu iz dos gezele ist Wendy Sharpes Kunstwerk immer noch zugänglich, wenn auch nur virtuell: Auf der Museumswebsite kann man sich einen kurzen Dokumentarfilm über die Ausstellung ansehen. Außerdem ist das Kunstwerk in einem Video dokumentiert, mit dem jiddischen Lied Vu iz dos gesele als stimmungsvolle Hintergrundmusik.


Sehr empfehlenswert ist auch das Video-Interview, das die australische Podcasterin und Malerin Maria Stoljar mit Wendy Sharpe über die Ausstellung Vu iz dos gesele geführt hat. 



Links: Sydney Jewish Museum, Website von Wendy Sharpe